Ob groß oder klein, Städte stehen überall vor einer Vielzahl komplexer Herausforderungen. Von der Steuerung der Stadtentwicklung über die adäquate Reaktion oder aber die Prävention von Naturkatastrophen und die Lösung der Mobilitätsherausforderungen bis hin zur Erfüllung der Klimaziele ist ein systemisches Wissen und Verständnis vieler zusammenhängender Faktoren erforderlich. Nur damit lassen sich gute und nachhaltige Planungsentscheidungen treffen. Da für die Stadtentwicklung oft verschiedene Arten von Fachwissen erforderlich sind - darunter das von Ingenieur:innen, Architekt:innen, Stadtplaner:innen und Regierungsbeamten - ist die Fähigkeit, auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses vieler technischer Details klar zu kommunizieren, ebenfalls entscheidend. Zudem sind Bürger:innen zunehmend an der Beteiligung an Planungsentscheidungen interessiert. Demzufolge wird es auch wichtiger, dass Nichtfachleute die Stadtentwicklung besser verstehen.
13. Apr 2022
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Wissenschaftler:innen am Höchstleistungsrechenzentrum der Universität Stuttgart (HLRS) haben Computer-gestützte Lösungen entwickelt, um anspruchsvolle Stadtplanungsprozesse zu erleichtern. Im Mittelpunkt steht der so genannte urbane digitale Zwilling, ein hochdetailliertes Modell einer Stadt oder Gemeinde, die in der virtuellen Realität (VR) dargestellt wird. In mehreren Projekten hat das HLRS kürzlich untersucht, wie digitale Zwillinge die Stadtplanung intuitiver machen und die Bevölkerung besser einbinden können.
In einem Online-Workshop Ende März 2022 konnten sich Regierungsbeamt:innen und Planer:innen aus Städten und Gemeinden aus ganz Deutschland am HLRS über die Anwendungen von digitalen Zwillingen in Städten informieren. Anhand einiger praktischer Beispiele dieses Ansatzes regte der Workshop die Teilnehmenden dazu an, darüber nachzudenken, wie die Simulation mit urbanen digitalen Zwillingen ihnen bei ihren eigenen Planungsaktivitäten helfen könnte.
„Das HLRS kann Kommunen mit den passenden Werkzeugen und Fachwissen in vielerlei Hinsicht unterstützen“, sagte Professor Michael Resch, der Direktor des HLRS. „Dieser Workshop war ein erster Schritt, in dem wir den Kommunen vorgestellt haben, wie sie digitale Zwillinge für sich nutzen könnten. Darüber hinaus konnten wir erste Kontakte knüpfen, die zu spannenden Kooperationsprojekten führen können.“
Ein urbaner digitaler Zwilling ist ein hochdetailliertes Modell einer Stadt oder eines anderen Ortes, das in der virtuellen Realität gerendert wird. Durch den Einsatz leistungsstarker Supercomputer, elektronischer Sensoren und modernster Technologien für die Datenanalyse und -visualisierung integrieren urbane digitale Zwillinge sowohl sichtbare als auch unsichtbare Merkmale der bebauten Umwelt in einem immersiven, interaktiven Format. Mit einer 3D-Brille oder einem VR-Headset betritt man eine realistische Nachbildung eines Ortes und kann ihn in vielen Maßstäben erkunden, sogar bis zur Ebene eines Fußgängers, der einzelne Straßen und Gebäude betrachtet, heruntergebrochen.
Der digitale Zwilling von Herrenberg beinhaltet ein Modell von Feinstaub und Windströmungen in einem interaktiven 3D-Modell der Stadt in der virtuellen Realität.
Ein digitaler Zwilling einer Stadt kann auch jedes Merkmal, das in Form von Daten erfasst werden kann - z. B. Luftströmungsmuster, Prognosen zum Klimawandel oder Verkehrssimulationen - in seinen räumlichen Kontext stellen. Durch die Überlagerung dieser Daten mit einer realistischen Darstellung einer Stadt machen digitale Zwillinge komplexe Zusammenhänge leichter vorstellbar und verständlich. Darüber hinaus lassen sich mit digitalen Zwillingen Szenarien auf dem Computer testen und störende oder unmögliche Experimente in der Realität vermeiden. So kann ein virtuelles Modell beispielsweise vorhersagen und veranschaulichen, wie sich ein Gebäude oder die Sperrung einer Straße für den Verkehr auf den Lärmpegel auswirken könnte.
Am HLRS werden urbane digitale Zwillinge in der CAVE entwickelt. In dieser raumgroßen Einrichtung können Besucher:innen durch eine virtuelle Stadt navigieren, die sich so anfühlt wie der Besuch einer echten Stadt. Die CAVE ist so groß, dass sich Projektpartner und Interessengruppen in der realistischen Simulation treffen und die gewonnenen Erkenntnisse diskutieren können. Das HLRS hat auch urbane digitale Zwillinge auf Bildschirmen bei öffentlichen Veranstaltungen ausgestellt, um interessierten Bürger:innen Stadtplanungsszenarien auf eine Weise zu präsentieren, die ein besseres Verständnis und eine direkte Kommunikation ermöglicht.
In einer ersten Kollaboration entwickelten Wissenschaftler:innen HLRS gemeinsam mit der nahe gelegenen Stadt Herrenberg ihren ersten digitalen Zwilling. Baubürgermeisterin Susanne Schreiber erläuterte auf dem HLRS-Workshop die Beweggründe der Stadt für diesen Ansatz: „Wir von Seite der Stadt Herrenberg haben eine Chance gesehen, Stadtentwicklungsprozesse noch mal anders der Bürgerschaft nah bringen zu können.“ Bei einer öffentlichen Vorführung des digitalen Zwillings, der die gesamte Stadt in der virtuellen Realität abbildet, stieß Herrenberg auf große Resonanz. Seitdem, so Schreiber, arbeitet die Stadt daran, Sensoren und neue Datensätze in das Modell zu integrieren, um Wetterdaten zu sammeln, zu verfolgen, wann die Bepflanzungen in der Stadt bewässert werden müssen, die Parkplatzkapazität zu verwalten und Simulationen durchzuführen, um vorherzusagen, wie physikalische Veränderungen die Luftqualität verbessern könnten.
Mitarbeitende der Visualisierungsabteilung des HLRS, die während des Workshops per Webcast aus dem Visualisierungslabor zugeschaltet wurden, zeigten auch neuere Beispiele für digitale Zwillinge, die sie entwickelt haben. Ein digitaler Zwilling der Region Stuttgart zum Beispiel integriert GIS-Daten mit Echtzeit-Verkehrs-, Wetter- und Luftqualitätsdaten, um Hotspots der Luftverschmutzung zu identifizieren. In einem Projekt mit dem Namen Cape Reviso haben Forschende des HLRS auch einen digitalen Zwilling des pulsierenden Stuttgarter Marienplatzes verwendet, um zu untersuchen, wie sich Konflikte zwischen Fußgänger:innen, Radfahrenden und anderen Verkehrsteilnehmer:innen verringern ließen. Das Team stellte auch eine laufende Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Tallinn vor, bei der ein digitaler Zwilling der estnischen Hauptstadt verwendet wird, um die potenziellen Vorteile von neuen Bepflanzungen und Grünflächen zu untersuchen. Der digitale Zwilling, der in einem Schaufenster mitten in der Stadt ausgestellt ist, wird als partizipatorisches Instrument eingesetzt, das es Stadtbewohner:innen, Planer:innen und Managern ermöglicht, eine virtuelle Grünplanung durchzuführen.
Im Rahmen des Projekts Cape Reviso untersucht das HLRS, wie die Simulation dazu beitragen kann, Strategien zur Verringerung des Stresses zwischen Fußgängern und Radfahrern zu ermitteln.
Darüber hinaus wurden während des Workshops Anwendungen digitaler Zwillinge für die Vorbereitung auf Krisensituationen vorgestellt. Mithilfe virtueller Modelle lassen sich beispielsweise Orte identifizieren, die durch Gewitter oder Tsunamis überschwemmungsgefährdet sind, oder die Ausbreitung von Krankheiten in Pandemie-Situationen vorhersagen. Als Reaktion auf das wachsende Interesse und den Bedarf an Ressourcen für Crisis Computing in Deutschland hat das HLRS vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Förderung für das neue Projekt „CIRCE“ erhalten. In diesem dreijährigen Projekt wird das HLRS gemeinsam mit staatlichen Stellen untersuchen, wie der Zugang zu den großen Rechenressourcen des HLRS es ihnen ermöglichen könnte, in Krisensituationen schnell und effektiv zu reagieren.
Obwohl diese Beispiele viele mögliche Anwendungen von digitalen Zwillingen aufzeigen, lässt sich das Konzept an die spezifischen Bedürfnisse einzelner Städte und Gemeinden anpassen. „Wir am HLRS freuen uns darauf, mit Städten und Gemeinden in ganz Baden-Württemberg ins Gespräch zu kommen, um mehr über ihre Bedürfnisse zu erfahren und darüber, wie diese neue Nutzung digitaler Zwillinge für die Stadtplanung ihnen helfen könnte, die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen sie stehen“, sagte Dr. Karin Blessing, Moderatorin des Workshops.
— Christopher Williams