Simulationen und andere Anwendungen von Höchstleistungsrechnen sind unverzichtbare Forschungsinstrumente, sowohl für die Grundlagenforschung, als auch in den angewandten Wissenschaften. Zu den positiven Beiträgen des Höchstleistungsrechnens gehört ein besseres Verständnis unserer Welt und die Unterstützung bei der Entwicklung neuer Technologien. Mit der wachsenden Rolle der Computersimulation stellt sich jedoch die Frage, wie sie Wissenschaft, Technologie, Politik und Gesellschaft verändert und wie darauf reagiert werden sollten.
12. Jul 2019
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Durch seine Abteilung Philosophie der Computersimulation treibt das HLRS solche Diskussionen schon seit vielen Jahren voran. In 2018 konnte das HLRS zwei Gastwissenschaftler willkommen heißen — PD Dr. Johannes Lenhard (Philosophie-Fakultät, Universität Bielefeld) und Prof. Dr. Nicole J. Saam (Institut für Soziologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg). Ihre Forschung beleuchtet einige aktuelle Schlüsselfragen zu der Philosophie der Simulation und ihre Erfahrungen am HLRS zeigen, wie wertvoll multidisziplinärer Dialog sein kann.
Johannes Lenhard beschäftigt sich seit 2001 mit den philosophischen und historischen Fragestellungen, die der zunehmende Einsatz von Computern in vielen Wissenschaftsdisziplinen aufwirft. „Eine wichtige Fragestellung für Wissenschaftsphilosophen ist, was es für einen Wissenschaftler bedeutet, etwas zu wissen“, so Lenhard. „Sind die Erkenntnisse, die sich aus Computer-Simulationen ergeben, anders als jene, die mit älteren Methoden generiert werden? Als Historiker stellt sich außerdem die Frage, wie sich die Bedingungen über die Jahre entwickelt haben, unter denen Computersimulationen verwendet werden. So ist es möglich, ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wie Simulation heute eingesetzt wird.“ In seiner Forschung untersucht Lenhard, durch welche Eigenschaften sich Computersimulation von heute von früheren mathematischen Modellen unterscheidet.
Ein Beispiel ist die Veränderung von Experimenten durch den Einsatz von Simulationen. Mit Hilfe von Supercomputern können Wissenschaftler die Parameter mathematischer Modelle leichter anpassen, so dass sie sich den beobachteten Daten nähern. „Deep learning“-Algorithmen sind vielleicht die Paradebeispiele dieses Ansatzes; die Anpassung von Parametern ermöglicht es, nahezu jedes Verhalten zu modellieren. Auch, wenn diese Möglichkeit nützlich sein kann, fragt sich Lenhard dennoch: Ist das noch Wissenschaft?
„Die Idee, dass allgemeine Gesetze Ordnung im Chaos offenbaren,ist historisch mit der Idee verbunden, dass diese Gesetze mathematisch formuliert werden können. Doch neue Computer-Modellierungsverfahren haben nichts damit zu tun, solche allgemeingültigen Gesetze zu definieren“, gibt Lenhard zu bedenken. „Heute hoffen wir, die Dinge auf vorhersehbare Weise zu beschreiben und zu steuern, auch wenn wir kein Gesetz dafür haben.“ In diesem Sinne unterscheidet sich die Computersimulation von früheren wissenschaftlichen Ansätzen, bietet jedoch völlig neue Optionen.
Eine interessante philosophische Fragestellung zur Computersimulation ist ein Resultat dessen, was Philosophen als „Opazität” bezeichnen. Computersimulationen führen oft zu unerwarteten Ergebnissen und häufig können die Gründe hierfür nicht gefunden werden, da es unmöglich ist, zu beobachten, wie ein Algorithmus funktioniert. „Das kehrt das Konzept der mathematischen Modellierung um, weil wir bisher geglaubt haben, dass sich mit mathematischen Modellen die Ursachen eines Verhaltens klar erkennen lassen müssten“, schließt Lenhard.
Während ihrer Gastprofessur am HLRS hat sich Nicole J. Saam mit der Entwicklung einer systematische Methode zur Definition, Kategorisierung und Messung dieser Opazität beschäftigt. Ein solches Modell könnte Faktoren wie Instabilitäten im numerischen Modell, den Einsatz von Verfahren der Modellvereinfachung zur Reduktion der notwendigen Rechenoperationen, sowie die Anzahl der verschiedenen an der Modellentwicklung beteiligten Teams, die jeweils nur einen kleinen Teil des Projekts verstehen, adressieren. Diese Kriterien berücksichtigen, dass Opazität in Computersimulationen technische, mathematische und soziale Ursprünge haben kann.
Basierend auf der Definition der Dimensionen von Opazität hat Saam einen wissenschaftlichen Rahmen und einen Fragebogen entwickelt. Ihr Team hat damit begonnen, Gruppen von Wissenschaftlern, die am HLRS Simulationen durchführen, zu befragen, um die vielen verschiedenen Dimensionen von Opazität besser zu verstehen.
„Für einen Principal Investigator kann sich Opazität ganz anders darstellen, als für einen Hochschulabsolventen”, betont Saam. “Aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen kann ihre Wahrnehmung von Opazität sehr unterschiedlich sein. Ist Opazität eine objektive Eigenschaft oder ist es eine subjektive Erfahrung, die sich von Individuum zu Individuum unterscheidet? Nach der aktuellen Definition ist Opazität ein relationales Konzept. Wir würden sehr gerne einen Weg finden, dieses zu messen.“ Saam erwartet auch einen praktischen Einsatz für ein solches Vorgehen: „Wenn man vorhersagen könnte, welche Probleme Opazität bei welchen Arten von Simulationen typischerweise verursacht, wäre es vielleicht möglich, typische Probleme schon am Anfang der Modellimplementierung zu identifizieren und zu vermeiden”, glaubt sie.
Die Überbrückung der konzeptionellen Distanz zwischen Naturwissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern ist nicht einfach, aber Saams Projekt zeigt auf, wieso es so wichtig ist, daran zu arbeiten. „Manchmal dauert es Jahre oder sogar Jahrzehnte, um Wissenschaftler aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Naturwissenschaften, Ingenieurswissenschaften und Geisteswissenschaften zu einem produktiven Dialog zu bewegen”, merkt Saam an. „Die Chance für mich, hier am HLRS direkt mit Simulationswissenschaftlern zusammenzuarbeiten, ist wirklich außergewöhnlich.”
Lenhard stimmt zu. „Ich finde es wunderbar, dass es am HLRS eine Gruppe gibt, deren Aufgabe es ist, mit Wissenschaftlern über ihre Arbeit zu sprechen und eine stärkere Selbstreflexion über ihre Tätigkeit zu fördern”, stellt er fest. „Das sollten Wissenschaft und die Gesellschaft insgesamt öfter tun.”
—Christopher Williams