Forscher modellieren Muskeln mithilfe von HPC

Picture of leg muscle
Bild: Benjamin Maier, Universität Stuttgart

Eine interdisziplinäre Forschergruppe der Universität Stuttgart entwickelt immer detailliertere Modelle von Teilen des menschlichen Körpers. Von der Zellebene aus skaliert das Team die Simulationen hoch, um einzelne Muskeln im menschlichen Arm zu modellieren.

Seit den letzten Jahrzehnten bewegt sich das Verständnis des menschlichen Körpers auf zellulärer und subzellulärer Ebene. Der menschliche Körper besteht aus Milliarden von Zellen, und obwohl die Physiologen viele Prozesse verstanden haben, die von Muskel- und Nervenzellen gesteuert werden – etwa vom Klavierspielen bis zum Gewichtheben –, können die grundlegenden Prozesse, die diese Bewegungen steuern, noch nicht richtig erklärt werden.

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Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) weiß um die Bedeutung solcher Fragen. Daher hat es 2020 ein Schwerpunktprogramm initiiert, das Forschung unterstützt, die Simulationen und klinische Studien mehrerer anatomischer Systeme miteinander verknüpft. Die Ergebnisse könnten sich stark auf die individualisierte Medizin und die Entwicklung effektiverer Diagnosemethoden und Behandlungen auswirken.

Eine Forschungsgruppe der Universität Stuttgart um die Professoren Dominik Göddeke, Miriam Mehl und Oliver Röhrle beschäftigt sich seit Jahren mit der computergestützten Modellierung des menschlichen Bewegungsapparates. Für Göddeke ist der komplexe und integrierte Charakter der Forschung vielversprechend, aber auch sehr herausfordernd. „Viele wissenschaftliche Bereiche werden immer spezialisierter, dass niemand mehr bei all der notwendigen Mathematik, den Berechnungen und den biomechanischen Modellen alleine diese Probleme lösen kann“, so Göddeke. Fachgebietsübergreifende Teams sind daher unverzichtbar.

Das Team nutzt die Supercomputer am Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS), um hochauflösende Simulationen davon zu erstellen, wie unsere Muskeln, Knochen und unser Nervensystem grundlegend interagieren. Während die Entwicklung der meisten Therapien nach wie vor auf experimentellen Daten fußt, setzt das Team der Uni Stuttgart auf Computerberechnungen.

„Zum Bewegungsapparat fehlen leider viele wichtige Informationen, und die Durchführung von Messungen kann Datensätze verfälschen, zu Gesundheitsschäden führen oder zu ungenau sein“, so Aaron Krämer, Projektbeteiligter und Forschungsassistent an der Universität Stuttgart. „Ein alternativer Weg, um mehr über diesen Bereich zu erfahren, der sich immer mehr durchsetzt, ist die Simulation des interessierenden Prozesses. In unserem Fall untersuchen wir den gesamten Aktivierungsprozess vom Nervensystem bis zur Muskelkontraktion.“

Fitte Rechner

Zwar können Forscher den menschlichen Körper basierend auf generischen Eingabedaten aus Experimenten oder anderen Simulationen grob simulieren, aber die Erstellung eines „First-Principles“-Modells wird schnell rechenintensiv. So rechenintensiv, dass Forscher im Allgemeinen beschließen, mit einem kleinen Teil des Körpers zu beginnen – etwa einer Gruppe von Zellen oder Geweben – und dann die Simulationen zu erweitern, wenn mehr Rechenleistung verfügbar ist.

Simulation der Muskelkontraktion und der Richtung der inneren Kräfte. Bild: Benjamin Maier, Universität Stuttgart

 

Solche Simulationen sind rechenaufwendig, da die Forscher eine große Bandbreite an Skalen berücksichtigen müssen. Seit kurzem beschäftigen sich die Stuttgarter Forscher etwa mit der Simulation eines menschlichen Bizeps in Bewegung. Um nur einen der vielen Muskeln im Arm zu simulieren, müssen die Bewegungen für alle „Faszikel“ des Muskels genau berechnet werden. Jeder Muskel besteht aus 10 bis 100 Faszikeln, von denen jeder zwischen 10.000 und 250.000 Muskelfasern enthält. Letztendlich müssen dafür mehr als 5 Milliarden Gleichungen gelöst werden.

„Unser Modell ist ein solches Multiskalen- und Multiphysik-Problem, das zur vollständigen Simulation aller Prozesse – von der subzellulären Ebene bis zur Darstellung des menschlichen Körpers in Bewegung – Höchstleistungsrechnen benötigt“, so Mehl. „Wir wollen diese hochdetaillierten Modelle definitiv verwenden, denn phänomenologische Modelle, die auf kleineren Mengen von Eingabedaten basieren, liefern uns nicht so viele Informationen oder die Möglichkeit, Beobachtungen zu verallgemeinern, die wir in unseren Modellen sehen können.“

Um diese Simulationen zeitnah durchführen zu können, nutzt das Team 7.000 Kerne auf dem Hawk-Supercomputer des HLRS, wodurch es alle 180.000 Muskelfasern des Bizeps in einer einzelnen Simulation modellieren kann.

Höchstleistungsrechnen unterstützt Modellierungen auf dem Weg zur individualisierten Medizin

Die iterative Kombination von Computermodellierung und Experimenten hilft Wissenschaftlern bei der effizienten Entwicklung biomechanischer Modelle, die individuellere Ansätze zur Verbesserung der Gesundheit ermöglichen könnten. Zusammen mit dem Team und als Teil von SimTech, einem DFG-geförderten Exzellenzcluster an der Universität Stuttgart, leitet Professor Oliver Röhrle mehrere Projekte mit dem Ziel, Datensätze aus Experimenten zu integrieren, um die biomechanische Modellierung zu verbessern. Mithilfe von empfindlicher Sensor- und Kameraausrüstung erfasst Röhrle feinste Details davon, wie Muskelgruppen zusammenarbeiten, und nutzt die Daten dann für detaillierte Rechenmodelle.

„Bei SimTech geht es um die Integration von Daten in klassische, differenzialgleichungsbasierte Modelle“, so Röhrle. „Die Integration von experimentellen Daten und Computermodellen ist eine doppelte Herausforderung. Wenn man einerseits ein Modell hat, das durch viele experimentelle Daten gespeist wird, will man das Modell nicht zu sehr an nur einen Datensatz anpassen. Andererseits muss man, wenn man etwas ohne viele Daten modelliert, eine Art von Modell haben, weil die Datenmenge nicht ausreicht.“

Vor kurzem hat das Team seine Muskelmodelle um realitätsnahe Sehnen ergänzt. Dies erhöht zwar die Anzahl der benötigten physikalischen Berechnungen, macht die Modelle aber auch realistischer. Außerdem begann das Team mit der Simulation von Elektromyographie-Signalen, die es Medizinern ermöglichen, Erkrankungen zu erkennen, die sich auf die motorischen Fähigkeiten auswirken.

„Das ist eines der Bindeglieder zum experimentellen Teil unserer Arbeit“, sagt Benjamin Maier, Forschungsassistent an der Universität Stuttgart. „Diese sogenannten EMG-Signale messen das elektrische Potential auf der Haut. Um dies genau zu modellieren, müssen wir viele Muskelfasern in einer hochparallelen Umgebung simulieren können.“

Integrieren der Lösung inverser Probleme

Das gemeinsame interdisziplinäre biomechanische Forschungsprojekt an der Universität Stuttgart steht nun vor seiner nächsten großen Herausforderung: Simulationen zur Bestätigung der Ergebnisse aus Experimenten sollen in den Hintergrund rücken, Modellierungen und Simulationen zu deren Steuerung hingegen in den Vordergrund. „Ein wichtiger Aspekt der Simulationswissenschaft ist der Übergang von der Lösung von Vorwärtsproblemen zur Lösung inverser Probleme“, sagt Göddeke. „Wir haben jetzt erst den Punkt erreicht, an dem wir anfangen können, uns auf Inversionen zu konzentrieren.“

Während Supercomputer immer leistungsfähiger werden, freut sich das Team auch darauf, einzelne Simulationen von Muskeln miteinander zu verknüpfen. Die Modellierung eines Bizeps und eines Trizeps etwa, die sich gemeinsam in einem menschlichen Arm bewegen, könnte uns besser verstehen lassen, wie Muskelsysteme funktionieren.

-Eric Gedenk