Das Klimaschutzpaket der Europäischen Union wie auch das nationale Klimaschutzgesetz enthalten ehrgeizige Ziele für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen in Europa. Die EU soll bis 2050 und Deutschland bereits bis 2045 klimaneutral werden. Das Land Baden-Württemberg hat für die eigenen Liegenschaften sogar beschlossen, dieses Ziel bis 2030 zu erreichen. Damit dies gelingen kann, muss die Klimaneutralität nicht nur im Stromsektor, sondern insbesondere auch im Wärmebereich erzielt werden.
27. Okt 2022
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Konkret müssen zur Erreichung dieser Ziele auch die Emissionen aus der Bereitstellung der Gebäudewärme gesenkt werden. Die Gebäudewärme verursacht derzeit etwa ein Fünftel der Treibhausgasemissionen und verbraucht etwa ein Drittel der Energie in Deutschland. Die benötigte Steigerung von Gebäudeeffizienz und der Einsatz erneuerbarer Energiequellen für die moderne Beheizungsinfrastruktur sind nicht nur technische Herausforderungen, sondern auch ein Gemeinschaftsakt. Unterschiedliche Akteure wie Energieversorger, Hauseigentümer, Bewohner, Handwerk, Heiztechnikhersteller und weitere haben ihre jeweiligen Perspektiven und Interessen, die berücksichtigt werden müssen.
Für eine erfolgreiche Transformation kann daher kein „Top-Down-Ansatz“ verfolgt werden, da die unterschiedlichen Situationen vor Ort immer individuelle Lösungen benötigten. Außerdem werden selbst die besten Bemühungen einzelner Akteure nur begrenzte Auswirkungen haben, wenn sie nicht im Gesamtsystem geeignet integriert werden. Um effizient Fortschritte erzielen zu können, sind koordinierte, individualisierbare Lösungsansätze von einer Vielzahl von Akteuren notwendig. Für viele Kommunen und Akteure ergeben sich aus den technischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten dieser Maßnahmen jedoch große Herausforderungen.
Eine kürzlich von der Universität Stuttgart angekündigte multidisziplinäre Forschungsinitiative zielt darauf ab, die Kommunen sowie involvierte Akteure bei der Energiewende zu unterstützen. In der Stuttgart Research Initiative (SRI) „DiTEnS (Discursive Transformation of Energy Systems)“ werden Forschende des Höchstleistungsrechenzentrums Stuttgart (HLRS) gemeinsam mit Wissenschaftler:innen anderer Institute der Universität Stuttgart eine Methodik sowie Technologien für die lokale Weiterentwicklung der Energiewende aufbauen. Unterstützt durch moderne Algorithmen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz und Visualisierungen entwickelt das Team einen diskursiven Ansatz, der alle Stakeholder eines bearbeiteten Gebiets mit begrenztem Aufwand in die Gestaltung der örtlichen Transformationsprozesse einbindet.
DiTEnS wird von der Carl-Zeiss-Stiftung (CZS) innerhalb des Programms „CZS Durchbrüche – RessourcenEffizienz“ für sechs Jahre mit insgesamt circa fünf Millionen Euro gefördert. Die Universität Stuttgart beteiligt sich mit zusätzlichen Mitteln und wird damit einen langfristigen neuen Forschungsschwerpunkt sowie ein dazugehöriges Graduiertenkolleg aufbauen. Prof. Dr.-Ing. Kai Hufendiek vom Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) wird der Sprecher des von einem kollegialen Direktorium geleiteten SRI DiTEnS.
Das interdisziplinäre Team der SRI DiTEnS vereint die Expertise für Energiesysteme, Gebäudeenergetik, Computersimulation und Sozialwissenschaften, die gemeinsam ein flexibles Modell entwickeln werden. Dieses Modell berücksichtigt sowohl die technischen Herausforderungen als auch die wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Aspekte bis hin zu optisch-ästhetischen Fragestellungen.
Als erste Hauptaufgabe von DiTEnS werden Forschende aus den Instituten für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER), für Energieübertragung und Hochspannungstechnik (IEH), für Gebäudeenergetik, Thermotechnik und Energiespeicherung (IGTE), dem Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) und dem Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) Methoden entwickeln, mit denen sich die komplexe Bestandssituation in den betrachteten Straßenzügen und Stadtvierteln effizient ermitteln lässt. Dann werden lokale Optionen für die individuelle klimaneutrale Umgestaltung der Untersuchungsräume bestimmt. Die Wissenschaftler:innen werden realistische, dynamische Simulationen entwickeln, die die Abhängigkeiten zwischen Gebäuden und Infrastruktur von der regionalen Ebene bis zu einzelnen Gebäuden integrieren. Dieser Ansatz soll für Kommunen, Eigentümer und weitere Akteure Strategien zur Nutzung erneuerbarer Energien, Verbesserung der Energieeffizienz, für den Einsatz intelligenter Netze, verfügbarer Abwärme, Elektromobilität und moderner Energiespeichertechnologien wie auch die Flexibilisierung der Nachfrage veranschaulichen.
Wissenschaftler:innen aus der Visualisierungsabteilung des Höchstleistungsrechenzentrums der Universität Stuttgart (HLRS) unter der Leitung von Dr. Uwe Wössner entwickeln aus den Ergebnissen dieser Modellierung digitale Zwillinge der Gebäude- und Energiesysteme in ihrem urbanen Kontext. Digitale Zwillinge sind hochdetaillierte, mehrskalige Modelle von Städten oder Regionen, die sowohl sichtbare als auch unsichtbare Merkmale der Umgebung simulieren, so etwa Feinstaub, Lärm oder Luftströme. Betrachtet in einer interaktiven 3D-Visualisierungsanlage wie der CAVE des HLRS vereinfachen sie die Darstellung von komplexen Systemen wie der Energie- und Gebäudeinfrastruktur eines Stadtgebiets. So kann man zum Beispiel verstehen, wie sich Veränderungen zur Erreichung von Klimaneutralität vor Ort und im Gesamtsystem auf Gebäude, Straßenzüge oder Stadtviertel und ihren vernetzten Betrieb im Gesamtsystem auswirken.
„Den Bürgerinnen und Bürgern einfach zu sagen, dass sie mehr Solarzellen auf dem Dach anbringen müssen, wird niemals funktionieren“, erklärt Wössner. „Darüber hinaus ist jede Gemeinde anders. Der Zustand ihrer bestehenden Gebäude ist verschieden, die Möglichkeiten und Einschränkungen hinsichtlich erneuerbarer Energien und Heizung sowie die soziale Struktur unterscheiden sich von Ort zu Ort. Mithilfe von Simulationen stellen wir Szenarien auf Basis aktueller Daten dar, wodurch die betroffenen Akteure und Kommunen faktenbasiert verhandeln und kollektiv Entscheidungen treffen können.“
DiTEnS verfolgt auch eine sozialwissenschaftliche Perspektive, um für eine gelingende Energie- und Wärmewende gemeinsam mit den verschiedenen Stakeholdergruppen Empfehlungen zu erarbeiten, wie sich Brücken zwischen technischen Möglichkeiten und ihrer individuellen Nutzung schlagen lassen, die für den Erfolg der Energiesparmaßnahmen ausschlaggebend sind. Aufbauend auf dem Fachwissen von ZIRIUS-Direktorin Prof. Dr. Cordula Kropp fördert DiTEnS den transdisziplinären Dialog, um Konflikte zwischen den unterschiedlichen Anforderungen aller Beteiligten der Energiewende zu reduzieren und gemeinsame Perspektiven zu fördern.
Die Universität Stuttgart hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu werden. DiTEnS wird Anfang des kommenden Jahres mit einer Studie beginnen, die die Energie- und Gebäudeinfrastruktur der Universität erfassen und mögliche Maßnahmen empfehlen wird. Die Forschenden werden sich unter anderem mit der Frage befassen, wie sich die Abwärme des Supercomputers am HLRS zur Beheizung anderer Gebäude nutzen lässt und welche weiteren Maßnahmen im universitätseigenen Fernwärmenetz und an den Gebäuden hierfür notwendig sind. Dabei kann die Studie auf einem Campusmodell aus dem Projekt MobiLab und den Ergebnissen aus dem E-Campuskonzept für ein klimaneutrales Energiesystem aufbauen, was einen schnellen Start ermöglicht. In MobiLab hat die Visualisierungsabteilung des HLRS gemeinsam mit Projektpartnern ein Konzept für einen auto- und emissionsfreien Campus entwickelt. Bei E-Campus entwickelte des IER verschiedene Transformationsoptionen für eine klimaneutrale Energieversorgung des Campus Vaihingen.
Perspektivisch wird DiTEnS auch weitere Fallstudien durchführen und mit Gemeinden aus dem Großraum Stuttgart bzw. Baden-Württemberg zusammenarbeiten, um weitere Strategien für eine nachhaltige Transformation urbaner Energiesysteme zu ermitteln und digitale Zwillinge in Partizipationsprozessen einzusetzen. Letztlich möchten die Forschenden dazu beitragen, die Energiewende in Deutschland zu beschleunigen und die Umsetzung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele zu verbessern.
Wössner erklärt: „Selbstverständlich können wir in diesem Projekt keinen Energieplan für alle Gemeinden in Deutschland erstellen. Aber das System, das wir entwickeln, sollte es Nachbarschaften und Gemeinden erleichtern, für sie relevante Szenarien zu analysieren und zu simulieren. Damit können wir zur Lösung einer globalen Herausforderung beitragen, der wir alle gegenüberstehen.“
— Christopher Williams