Mit der Entwicklung wiederverwendbarer Raketen und kleinerer, günstigerer Satelliten erlebt die Raumfahrtindustrie einen Boom. Aus diesem Grund wird für wichtige Funktionen der Gesellschaft, wie Kommunikation und Navigation, zunehmend auf Satelliten zurückgegriffen. Die Sicherheit von Satelliten im Weltraum ist daher nicht nur eine Frage des Investitionsschutzes, sondern auch des reibungslosen Ablaufs des menschlichen Lebens auf der Erde.
09. Okt 2023
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Weiterhin bedarf es jedoch eines zufriedenstellenden Verständnisses wichtiger Phänomene im erdnahen Weltraum, die die Funktion von Satelliten beeinflussen. Die Dynamik des Sonnenwindes bei seiner Annäherung an die Erde beispielsweise kann bei Satelliten verheerende Folgen haben. Trotz jahrzehntelanger Forschung bleibt es schwierig, detaillierte Modelle für solche Bedingungen zu entwickeln. Dass der Weltraum viel größer ist als alles andere auf der Erde, ist nur eines der Hindernisse. Darüber hinaus ist das Weltraumwetter physikalisch komplexer als das Wetter auf der Erde und nur eine begrenzte Anzahl von Beobachtungssatelliten lässt sich ins All schießen. In Zukunft möchten Wissenschaftler:innen das Wetter im Weltraum genauso gut vorhersagen können wie das Wetter auf der Erde. Damit dies möglich wird, ist die Simulation der Weltraumphysik mithilfe von Supercomputern erforderlich, da sich damit viele der offenen Fragen beantworten lassen.
Dr. Minna Palmroth, Professorin in der Forschungsgruppe für Weltraumphysik an der Universität Helsinki, leitet seit mehr als zehn Jahren die Entwicklung eines Modells namens Vlasiator, das das Potenzial hat, das Verständnis der Magnetosphäre zu verbessern. Die Magnetosphäre ist die Region um die Erde, in der das elektromagnetische Feld des Planeten mit dem Sonnenwind in Wechselwirkung tritt. Mithilfe mehrerer Generationen von Supercomputern am HLRS — Hermit, Hazel Hen und aktuell Hawk — haben Palmroth und ihr Team die Fähigkeiten von Vlasiator verbessert. Nun liefert Vlasiator ein sechsdimensionales, globales Modell des erdnahen Weltraums. Eine aktuelle Veröffentlichung aus der Fachzeitschrift Nature Geoscience zeigt, dass Vlasiator einzigartige Einblicke in Phänomene bieten kann, die sich mit anderen Simulationsmethoden nicht untersuchen lassen.
Seit den 1970er Jahren setzen Physiker:innen Computer ein, um die Bedingungen im erdnahen Weltraum zu simulieren. Die bestehenden Algorithmen konnten sich jedoch einigen der wichtigsten Merkmale nur annähern. In der Magnetohydrodynamik (MHD), einem etablierten Ansatz zur Simulation der Magnetosphäre, enthalten die Codes die eingebaute Annahme, dass die Teilchengeschwindigkeiten im Weltraum genauso verteilt sind wie auf der Erde, d.h. einer Normalverteilung folgen. Auf der Erde gruppieren sich viele Teilchen in einem gegebenen dreidimensionalen Würfel um eine Durchschnittsgeschwindigkeit mit relativ wenigen Ausreißern. Da die Temperatur das Ergebnis von sich bewegenden Teilchen ist, gibt diese Verteilung die Temperatur der Luft im Würfel gut wieder.
Eine schon lange bekannte Herausforderung in der Weltraumphysik besteht darin, dass die Protonengeschwindigkeiten im Weltraum keiner Normalverteilung folgen, sondern viel stärker schwanken. Um das tatsächliche Verhalten von Protonen in MHD-Codes zu berücksichtigen, wäre jedoch eine unbezahlbare Rechenleistung erforderlich. Daher hatten die Modellierer des Weltraums keine andere Wahl, als die Teilchen im Weltraum genauso zu behandeln wie die Teilchen auf der Erde.
Schnappschuss der Oberfläche der Plasmaschicht in der Vlasiator-Simulation, der große, schwanzbreite Plasmaausbrüche in der Stromdichte und Magnetfeldtopologie zeigt. Die Einzelheiten finden Sie in Palmroth et al. 2023. Bild: Universität Helsinki.
Dr. Palmroth und ihre Kollegen können dank verbesserter Algorithmen und leistungsfähigerer Supercomputer wie denen am HLRS ein Modell ohne solche Kompromisse entwickeln. „Beim Betrieb von Vlasiator am HLRS ist es möglich, alle mit Protonen zusammenhängenden Phänomene im erdnahen Weltraum so zu modellieren, wie sie sind. Die Modellierung basiert auf fundamentalen physikalischen Prinzipien ohne die Notwendigkeit einer Annäherung“, sagt Palmroth.
Um globale Simulationen der Magnetosphäre und Ionosphäre der Erde zu erstellen, berücksichtigt Vlasiator sechs verschiedene Dimensionen — drei räumliche Dimensionen und drei Dimensionen, die die Teilchenverteilung quantifizieren. Der Code modelliert nicht die Bewegung einzelner Teilchen, sondern liefert eine hochpräzise Darstellung der Veränderungen der Protonenverteilung in Raum und Zeit. (Der mathematische Ansatz, den sie verwenden, basiert auf der Vlasov-Gleichung.) „Die Form der Teilchenverteilung ist entscheidend für viele jahrzehntealte ungelöste Rätsel“, erklärt Palmroth. „Vlasiator konzentriert sich ausschließlich auf diese Herausforderung und kann Prozesse aufdecken, die bisher nicht sichtbar waren.“ Diese Fähigkeit hat ihrem Team neue Möglichkeiten für die Untersuchung der Weltraumphysik eröffnet.
Eines der unvorhersehbarsten Phänomene in der Magnetosphäre ist ein so genannter Substurm. Hier führen die Wechselwirkungen zwischen dem Sonnenwind und dem elektromagnetischen Feld der Erde zu einer Ansammlung und einem plötzlichen Ausstoß von Plasma, einem sogenannten Plasmoid. Solche Ausbrüche finden im Magnetschweif statt, dem Teil der Magnetosphäre auf der Nachtseite der Erde. Von der Erdoberfläche aus sind diese Auswürfe als besonders spektakuläre Polarlichter sichtbar. Im Raum können sie jedoch Satelliten beschädigen oder deren Betrieb stören.
Obwohl man versucht hat, Substürme zu erklären, ließen sich ihre Ursachen bisher kaum verstehen. Eine mögliche Erklärung, die sogenannte magnetische Rekonnektion, geht davon aus, dass Veränderungen im elektromagnetischen Feld im Magnetschweif einen Teil der Magnetosphäre abtrennen, der dann als Plasmoid freigesetzt wird. Eine andere, die sogenannte kinetische Instabilität, postuliert, dass Instabilitäten im Magnetschweif Wellen erzeugen, die den Magnetschweif aufrechterhaltenden Strom unterbrechen und zum Ausstoß des Plasmoids führen.
Mit Vlasiator simulierten Palmroth und ihr Team auf dem Supercomputer Hawk des HLRS die Magnetosphäre in einem Maßstab, der die Physik aufzeigen kann, die diesen beiden Hypothesen zugrunde liegt. Überraschenderweise deuteten ihre Ergebnisse darauf hin, dass sowohl die magnetische Rekonnektion als auch kinetische Instabilitäten auftreten, jedoch nicht in der Art und Weise, wie Weltraumphysiker:innen sie in der Vergangenheit verstanden haben. Laut ihrer Veröffentlichung in Nature Geoscience werden Plasmoide ausgeworfen, wenn kleinere Plasmoide wegen einer von kinetischer Instabilität verursachten Störung der Strömung zu einem großen Plasmoid vereinigt werden.
Vergleich der Modellierungstechniken mit Magnetohydrodynamik (links) und Vlasiator (rechts). Beide Methoden modellieren Elektronen als Flüssigkeit, aber Vlasiator verwendet einen Hybrid-Vlasov-Ansatz, der die Protonengeschwindigkeiten als Verteilungsfunktionen simuliert. Vlasiator kann die kinetischen Effekte von Ionen auf einer kleineren Skala erfassen und bietet ein globales Modell, das den Sonnenwind, die Magnetosphäre und die Ionosphäre umfasst. Bilder: Universität Helsinki
Palmroth zufolge ermöglichte die globale Natur von Vlasiator diese neuen Erkenntnisse. „Vlasiator umfasst nun den stromaufwärts gelegenen Sonnenwind, die Magnetosphäre und die Ionosphäre“, erklärt sie. „Plasmaphänomene treten in einem viel kleineren Maßstab auf, aber da sich globale Merkmale auf lokale Merkmale auswirken und umgekehrt, braucht man ein globales Modell, um den nötigen Kontext zu schaffen. Ohne das globale Modell ist es unmöglich, die Entwicklung des gesamten Systems gleichzeitig zu verstehen.“
Beim Vergleich der Ergebnisse von Vlasiator mit verfügbaren Beobachtungsdaten stellte Palmroth fest, dass die Ergebnisse ein detailliertes und genaues Bild ergeben. Der Code ermöglicht es ihr, auch andere Merkmale der Magnetosphäre zu beobachten. In weiteren aktuellen Veröffentlichungen wurde beispielsweise über die Übertragung von Vorbebenwellen durch den Bugschock der Erde, den Niederschlag von Protonen in der Aurora und die Eigenschaften von Pc3-Wellen berichtet.
Als Palmroth um das Jahr 2004 herum zum ersten Mal die Idee hatte, ein globales ionenkinetisches Modell der Magnetosphäre zu erstellen, wiesen viele Kollegen sie darauf hin, dass dies rechnerisch niemals möglich wäre. Bei der Entwicklung von Vlasiator hat sie jedoch stets Code entwickelt, der nicht für die Architekturen und Fähigkeiten aktueller HPC-Systeme, sondern für zukünftige, leistungsfähigere HPC-Technologien geeignet ist.
„Diese Philosophie funktioniert nur, wenn wir eng mit Leuten zusammenarbeiten, die in die technologische Zukunft blicken“, erklärt sie. „Deshalb ist das Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart eines meiner Lieblingsrechenzentren. Das HLRS verfügt über ein sehr gutes Fachwissen und Know-how, das für die Entwicklung unserer Algorithmen entscheidend ist und einen produktiven Co-Design-Prozess ermöglicht.“
Vlasiator eröffnet nicht nur neue Felder für die Erforschung der Weltraumforschung, sondern tut sich auch mit seiner Effizienz bei der Ausführung auf dem Supercomputer Hawk des HLRS hervor. Laut Palmroth seien Experten auf dem Gebiet der Computermodellierung oft von der Leistung des Codes überrascht, da er bei der Ausführung auf bis zu 200.000 Rechenkernen fast linear skaliert. Palmroth führt diese Leistung auf die enge Zusammenarbeit mit dem User Support des HLRS zurück, der wertvolle Ratschläge für die Verwaltung von Themen wie Input-Output, Datenspeicherung und andere technische Fragen gegeben hat, die für eine optimale Nutzung der Supercomputer des Zentrums erforderlich sind. „Die HPC-Experten am HLRS setzen hohe Standards für die Anwendungsleistung, die wir in der Praxis versuchen umzusetzen“, sagt sie.
Da sich HPC der Exascale nähert, sehen Palmroth und ihr Team viele Möglichkeiten, die Fähigkeiten von Vlasiator zu erweitern. Sie gehen davon aus, dass sie in Zukunft in der Lage sein werden, die Auflösung ihres Modells zu verbessern, längere physikalische Zeiträume zu simulieren und mehrere Durchläufe derselben Simulation durchzuführen, um auf der Grundlage vergleichender statistischer Analysen noch bessere Modelle zu erstellen. Da Vlasiator ursprünglich für Supercomputer mit CPU-Prozessoren entwickelt wurde, arbeitet das Team derzeit auch an einer Neufassung des Vlasiator-Codes, damit die Berechnungen des Geschwindigkeitsraums auf GPU-Beschleunigern ausgeführt werden können. Da die Geschwindigkeitsberechnungen bis zu 90 % der Rechenzeit beanspruchen, schätzt sie, dass der Code dadurch mindestens 20 Mal schneller laufen könnte.
Diese Pläne deuten darauf hin, dass das Palmroth-Labor mit der Weiterentwicklung des Höchstleistungsrechnens auch weiterhin neue Erkenntnisse über die Umgebung unseres Heimatplaneten liefern wird.
— Christopher Williams
Ganse U, Koskela T, Battarbee M, et al. 2023. Enabling technology for global 3D + 3V hybrid-Vlasov simulations of near-Earth space. Phys Plasmas. 30(4): 042902.
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Hawk wurde vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung über das Gauss Centre for Supercomputing (GCS) finanziert.