Auftaktsymposium des SRF „(Re-) Producing Realities“

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Prof. Kirsten Dickhaut stellte die Ziele von (Re-)Producing Realities vor.

Das HLRS bringt seine Expertise in der Simulationswissenschaft in einen neuen Stuttgarter Research Focus ein. Mithilfe von Perspektiven aus dem Theater wird erforscht, wie digitale Medien Wahrnehmungen von Realität erzeugen und beeinflussen.

Der im Jahr 2023 initiierte Stuttgart Research Focus (SRF) „(Re-)Producing Realities“ (Re2) nutzt das Theater als strukturelles Modell, um zu untersuchen, wie Repräsentation unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der Welt formt. Expert:innen aus den digitalen Geisteswissenschaften, den Sozialwissenschaften, den Produktionstechnologien und den Simulationswissenschaften der Universität Stuttgart und der Stuttgarter Kulturszene entwickeln hierbei gemeinsam ein strukturiertes Verständnis digitaler Realitäten.

„Dieser Stuttgarter Forschungsschwerpunkt ist ein Beispiel für den Stuttgarter Weg, der die Erprobung innovativer Formate durch ungewöhnliche Kombinationen von Disziplinen ermöglicht“, sagte Dr. Kirsten Dickhaut, die Leiterin von Re2. „Dieser Ansatz hat nicht nur das Potenzial, Lücken in der Wissenschaft zu identifizieren und zu schließen, sondern stärkt auch alle beteiligten Disziplinen und ermöglicht es ihnen, ihre Methoden zu verbessern.“

Foto von Wolfram Ressel

Der Rektor der Universität Stuttgart, Dr. Wolfram Ressel, feierte den Start des neuen Stuttgart Research Focus.

 

An dem Projekt (Re-)Producing Realities beteiligen sich Vertreter der Universität Stuttgart, des Deutschen Literaturarchivs Marbach, des Höchstleistungsrechenzentrums Stuttgart (HLRS), des Leibniz-Instituts für Wissensmedien der Universität Tübingen, des Jungen Ensembles Stuttgart (JES), des Staatstheaters Stuttgart und des Visualisierungsforschungszentrums (VISUS). Wie Dickhaut in einem Auftaktsymposium am 26. Juni 2024 erläuterte, wird das Projekt untersuchen, wie Wissen produziert und im Sinne von kognitiven und imaginativen Realitäten, Medienrealitäten und Kommunikationsrealitäten verstanden wird. Das Symposium stellte die Ziele von Re2 vor und präsentierte Beispiele möglicher Forschungsanwendungen.

Theater und Technik erklären sich gegenseitig

Viele Merkmale der digitalen Welt von heute haben ihren Ursprung im Theater. Das Erstellen von Szenarien, Improvisation und Rollenspiele sind beispielsweise ebenso Merkmale von Bühnenaufführungen wie von wissenschaftlichen Simulationen oder Videospielen. In jedem Fall entsteht Wissen aus der Interaktion zwischen Aktivitäten und Perspektiven, die an der Produktion, Reproduktion, Darstellung und Interpretation beteiligt sind. Um ein tieferes Verständnis des Theaters zu erlangen, sollte untersucht werden, wie sich Praktiken und Techniken mit Diskursen wie politischen Ideologien oder der Literaturgeschichte sowie mit materiellen Konzepten in Bezug auf die Produktion und den Konsum von Theater überschneiden. In Rewerden solche Konzepte für die Untersuchung digitaler Technologien und ihrer Anwendungen relevant.

In einem Ansatz erforscht Re2 das Potenzial des Einsatzes digitaler Technologien zur Nachbildung historischer Realitäten. Am HLRS haben Visualisierungswissenschaftler:innen beispielsweise einen digitalen Zwilling des Ludwigsburger Schlosstheaters geschaffen, der die bemerkenswerte Bühnenmaschinerie in der virtuellen Realität bewahrt und darstellt. Re2 ist auch an einer Zusammenarbeit zur Entwicklung einer digitalen Reproduktion des Théâtre des Tuileries in Paris beteiligt, das einst eine nicht mehr existierende Bühnenmaschinerie beherbergte. Solche Projekte zeigen, wie digitale Zwillinge das Wissen über die Handwerkskunst im Ingenieurwesen bewahren können. Gleichzeitig könnten Simulationen historischer Orte neue literarische Erkenntnisse über die dort aufgeführten Stücke ermöglichen. „Das Verstehen von Theatermaschinen ist nur interdisziplinär möglich, was das Zusammenspiel von Techniken und Konzepten transparent macht“, erklärte Dickhaut auf dem Symposium.

Dr. Sylvaine Guyot von der New York University untersuchte den Einsatz von Technologie im französischen Theater des 17. Jahrhunderts.

Foto von Sylvaine Guyot

In einem weiteren Ansatz wird Re2 die Rolle der Performance bei der Herstellung von Realitäten untersuchen. Wie im Theater kann Computersimulation Realitäten schaffen oder erweitern, indem sie Beweise liefert oder nicht wahrnehmbare Merkmale der Welt sichtbar macht. Die beiden Bereiche ähneln sich auch insofern, als keiner von ihnen ohne Kunstgriffe und bewusste Entscheidungen möglich ist. Solche Entscheidungen können bestimmen, wie Darstellungen geschaffen und wahrgenommen werden. Durch die Betrachtung der digitalen Welt durch die Linse der theatralischen Performance könnte Re2 daher ein tieferes Verständnis für die Annahmen bieten, die der Technologieentwicklung und -nutzung zugrunde liegen.

Ein weiteres, wesentliches Merkmal modernster digitaler Werkzeuge wie Simulationen, künstlicher Intelligenz oder Drohnen ist, dass sie jeweils eine Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine darstellen. Von Puppen bis hin zu Spezialeffekten ist auch die Theatergeschichte voll von vergleichbaren Beispielen für Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine. Für Re2 bietet dies die Gelegenheit zu untersuchen, wie das Theater ein Objektiv für das Verständnis der heutigen maschinengestützten Gesellschaft sein kann. Nach Ansicht von Dickhaut geht es nicht nur um die Beschreibung von Interaktionen zwischen Menschen und Maschinen, sondern auch um Strukturen und Rahmenbedingungen, die in digitale Technologien eingebettet sind und die menschliche Erfahrung von und Interaktion mit der Realität prägen.

Führende Wissenschaftler halten Keynote-Vorträge

Nach einleitenden Worten des Rektors der Universität Stuttgart, Dr. Wolfram Ressel, bereicherten drei Keynote-Vorträge das Re2-Auftaktsymposium mit Forschungsbeispielen, die sich mit der Schnittstelle von Theater und Technologie befassten.

Foto von Chris Palme

Dr. Chris Balme von der Ludwig-Maximilians-Universität München sprach über die Funktion des Puppenspiels in den Werken der Handspring Puppet Company.

Prof. Dr. Sylvaine Guyot von der New York University untersuchte die Funktion von "Bedazzlement“ in französischen Bühneninszenierungen des 17. Jahrhunderts. Sie zeigte, wie analytische Perspektiven, die sowohl die Maschinerie als auch den Text von Bühneninszenierungen berücksichtigen, neue Interpretationen der Stücke und ihrer politischen Funktion eröffnen können. Prof. Dr. Chris Balme von der Ludwig-Maximilians-Universität München sprach über das experimentelle Theater der Handspring Puppet Company. Er untersuchte, wie die Künstler:innen mithilfe von Puppen und Film Beziehungen zwischen dem Publikum und der schmerzhaften Geschichte Südafrikas unter der Apartheid verhandeln. Prof. Dr. Andreas Kibitz von der Universität zu Köln schloss das Programm mit einem Essay über Heinrich von Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater“. Er beleuchtete die komplexen ästhetischen Fragen, die entstehen, wenn menschlicher Tanz mit mechanischen Mitteln dargestellt wird.

Zukünftige Pläne

Mit Blick auf die Zukunft merkte Dickhaut an, dass (Re-)Producing Realities 2024 mit der Veröffentlichung einer Buchreihe beginnt. Das Programm wird auch Veranstaltungen für Nachwuchswissenschaftler:innen durchführen, um sie zu ermutigen, die Perspektiven von Re2 zu erkunden. Vom 10. bis 12. Juli 2025 wird das Programm außerdem die African Theater Association als Gast der Universität Stuttgart willkommen und Aufführungen sowie eine internationale Konferenz organisieren.

Weitere Informationen über Re2 finden Sie unter: https://www.re2.uni-stuttgart.de.

— Christopher Williams